Redebeitrag der Burak-Ini zum 6. Jahrestag des Anschlags in Halle/S.

150 Menschen nahmen an der Gedenkkundgebung zum 6. Jahrestag des Anschlags von Halle/S. und Wiedersdorf an der Kundgebung am Oranienplatz in Berlin-Kreuzberg teil. Wir konnten einen Redebeitrag zur Kundgebung beitragen.

Initiative Antisemitismus und Rassismus gemeinsam bekämpfeninstagram von Initiative Antisemitismus und Rassismus gemeinsam bekämpfen

Liebe Angehörige, liebe Überlebende und Betroffene, liebe Soligruppe 9. Oktober, liebe jüdische Gemeinde, liebe solidarische Menschen,
heute erinnern wir gemeinsam an den antisemitischen, rassistischen und misogynen Anschlag vom 9. Oktober 2019 in Halle und Wiedersdorf.
Wir gedenken den beiden Ermordeten. Unsere Gedanken sind bei den Angehörigen, Freund*innen, den Überlebenden und allen, die von diesem Terror betroffen sind.
Wir möchten unser tiefes Mitgefühl ausdrücken – auch gegenüber jenen, die aktuell erneut betroffen sind, wie durch den Anschlag auf die Synagoge in Manchester an Yom Kippur vor wenigen Tagen. Wir gedenken auch den Opfern dieses erschütternden Anschlags.

Es sind nun 6 Jahre des Erinnerns, des Widerstands und des Kampfes. Ihr setzt Zeichen. Sie sind unübersehbar. Sie sind unüberhörbar.
Mit dem TEKIEZ habt ihr einen ganz besonderen Ort der Solidarität geschaffen, ein Zeichen gegen Rassismus und Antisemitismus, einen Raum für Begegnung und gegenseitiges Zuhören.
Es ist euch immer wichtig, die unterschiedlichen Tatmotive für den Anschlag von Halle und Wiedersdorf zu benennen: Antisemitismus, Rassismus und Misogynie. Der Spaltung von jüdischen und muslimischen Menschen seid ihr so von Anfang an entgegengetreten.

Gerade nach dem 7. Oktober 2023, den Angriffen der Hamas und dem Krieg in Gaza erleben wir, wie Antisemitismus und Rassismus gegeneinander ausgespielt werden. Die so genannte Staatsräson wird dabei oft als Vorwand genutzt, um innenpolitisch repressiv zu handeln, statt jüdisches Leben wirklich zu schützen. Das führt zu einer weiteren Spaltung und einem Anstieg von Antisemitismus und antimuslimischem Rassismus.
Betroffene sind keine Statisten. Sie sind aktiv: Sie klären auf, fordern Gerechtigkeit, leisten Erinnerungsarbeit. Das sehen wir in Hanau, in München, in Mölln – und hier in Halle.
Ein Beispiel ist die interaktive Timemap, die u. a. von Talya Feldmann mitentwickelt wurde. Sie macht deutlich: Der Anschlag von Halle war kein Einzelfall, sondern eingebettet in eine Kontinuität rechten Terrors, bei dem Online-Radikalisierung eine wichtige Rolle spielt. Christchurch, El Paso, Poway, Oslo – es finden sich zahlreiche Parallelen.

Erschreckend ist, dass Behörden kaum Wissen darüber haben und diese Verbindungen schwer erkennen – oder dies nicht wollen. So erklärte das BKA selbst, Zusammenhänge dieser Art zu erkennen, sei „nicht ihre Aufgabe“. Diese Ignoranz kennen viele Betroffene. Sie erleben nicht nur den Terror selbst, sondern auch das wiederholte institutionelle Versagen danach.
Alle Betroffenen müssen mit dieser schwierigen und belastenden Situation ihre eigenen Umgangsweisen finden.

Philipp Holland hat anlässlich des 10. Todestages seines Sohnes Luke einige seiner Gedanken und Gefühle mit uns geteilt. Luke Holland wurde 2015 von einem Nazi in Berlin-Neukölln ermordet, weil er Englisch sprach. Auf seinen Mörder hatte es bereits bei den Ermittlungen zu dem bis heute nicht aufgeklärten Mord an Burak Bektaş einen Hinweis gegeben.
Philipp Holland sagte:
„Ritas Leben und mein Leben sind seit diesem Tag vorbei. Seitdem ist es sehr schwer gewesen. Rita ist nur vier Jahre nach Luke gestorben. Sie konnte den Schmerz und den Kummer, ohne unseren Sohn leben zu müssen, nicht mehr ertragen. (…) ich versprach ihr, dass ich versuchen würde, am Leben zu bleiben, um zu sehen, wie hoffentlich für den Mord an Burak gegen Zielezinski ermittelt wird, und er angeklagt und strafrechtlich verfolgt wird.
Wenn von Anfang an ordnungsgemäß gegen ihn ermittelt worden wäre, (…) wäre ich nicht in dieser Lage. Und Rita und Luke wären noch am Leben.“

Diese Worte tragen tiefe Trauer – aber auch Wut, den Wunsch nach Gerechtigkeit und den Auftrag an uns alle, uns für Aufklärung, Gerechtigkeit und Konsequenzen einzusetzen.

Viele von euch kennen all diese Gefühle. Und ihr beschreibt immer wieder, dass die Vernetzung mit anderen Betroffenen, die ähnliche Erfahrungen teilen, neben der Schwere, die ihr teilt, auch Kraft gibt. Ihr solidarisiert euch, hört euch gegenseitig zu, erhebt gemeinsam eure Stimme, stellt Zusammenhänge heraus, klagt an, kämpft für Aufklärung und sucht selbstbestimmt nach Wegen der Erinnerung und des Gedenkens.
Ohne die Narrative von Betroffenen ist Erinnerungskultur inhaltsleer.

Anastassia Pletoukhina, Überlebende des Anschlags von Halle und Wiedersdorf, sagt:
„Erinnern bedeutet für mich, in Verbindung mit mir, den anderen Betroffenen und der gesamten Gesellschaft zu sein. Es schafft neue Perspektiven und ermöglicht Wachstum und somit eine gemeinsame Zukunft. Vergessen und verdrängen sind Kluft-schaffende Verleugnung, in die wir als Gesellschaft unvermeidlich hineinfallen werden.“
In diesem Sinne lasst uns gemeinsam Erinnern, miteinander in Verbindung sein, unterschiedliche Perspektiven hören und zusammen an einer gemeinsamen Zukunft bauen.
Der Kampf gegen Antisemitismus und Rassismus geht uns alle an.
Wir überlassen den Rechten und ihren Ideologien nicht das Feld – und auch nicht die Deutungshoheit.
Wir lassen uns nicht spalten. Unsere Kraft ist eure Solidarität!