Archiv für den Monat: Juli 2019

26. Juni 2019 Tribunal NSU-Komplex-Auflösen:

Der 11. Mord des NSU-Netzwerks? Zum Mord an Walter Lübcke

(übernommen von Tribunal NSU-Komplex-Auflösen)

Der Mord an Walter Lübcke dokumentiert das Weiterwirken des NSU-Komplexes und die fortgesetzte Existenz des niemals vollständig aufgeklärten „Netzwerks von Kameraden“, wie die Selbstbezeichnung des NSU in seinem Bekennervideo lautete. Auf die Gefahr weiterer Morde haben Betroffene und Angehörige der Mordopfer, Nebenklageanwält*innen und antifaschistische Initiativen immer wieder hingewiesen. Der Mord und die bisherige (Nicht-)Reaktion aus Politik und Sicherheitsbehörden senden die gleiche Botschaft, die für den NSU-Komplex von Beginn an prägend war: Die Betroffenen werden nicht geschützt – für die neonazistischen Netzwerke sind die Taten weitestgehend folgenlos. Jede Tat ermutigt die nächste.

Die Tatbegehung und der politische Zusammenhang erinnern dröhnend an das ein Jahrzehnt lang andauernde und durch mehr als 40 V-Männer vielfältig „betreute Morden“ des NSU (Dorothea Marx (SPD), Vorsitzende Untersuchungsschuss/Thüringen). Ähnlich wie bei den neun Morden an Migranten in den Jahren 2000-2006 wurde das arglose Opfer mit einem Kopfschuss hingerichtet. Ein Bekennerschreiben wurde nicht veröffentlicht. Der engagierte Anwalt der Nebenklage im NSU-Strafverfahren Mehmet Daimagüler hat die Parallelen zwischen dem Lübcke-Mord und Taten des NSU hinreichend klar gemacht. (br-online vom 24.6.19) „Taten statt Worte“ nannte der NSU diese Strategie, wohlwissend dass die Opfer die Botschaft genau verstanden. Zwischenzeitlich hat der Nazi Stephan Ernst den Mord zugegeben. Lübcke wurde von Ernst in Chats mit Gesinnungskameraden als „Volksverräter“ markiert, sein Name stand aber bereits vorher auf der Feindesliste des NSU.

Die herrschende Politik und die Sicherheitsbehörden haben bislang kaum etwas getan, um die Wirksamkeit dieser Botschaft außer Kraft zu setzen. Die fortgesetzte Ignoranz gegenüber rechtsterroristischen Kontinuitäten in Deutschland zeigt sich u. a. in der Rede von einer vermeintlich neuen Qualität rechter Gewalt, die der Mord an Walter Lübcke darstellen soll. Diese Sichtweise gipfelte vorerst in der Aussage von Armin Schuster, CDU-Obmann im Innenausschuss des Bundestags, wonach es sich um den „ersten rechtsextremen Mord seit dem Kriegsende“ handeln soll. (ARD v. 26.6.19) Wie bitte? Hier werden die Morde des NSU entpolitisiert und die zahlreichen Opfer rassistischer Gewalt in zynischer Weise unsichtbar gemacht.
An dieser Logik ändert die Übernahme der Ermittlungen durch den Generalbundesanwalt (GBA) nichts – im Gegenteil. Sie lässt befürchten, dass die Verharmlosung der rechten Szene und ihrer mörderischen Praxis erneut staatsoffiziell gemacht wird. Schon im Prozess gegen Beate Zschäpe und vier Mitangeklagte war der GBA ein Garant für die Nicht-Ermittlung der weitverzweigten neonazistischen Netzwerke hinter den Morden.

Antifaschistische Recherchen haben sofort offengelegt, dass Ernst engagierter Teil der lokalen Kasseler Nazi-Szene ist. Er unterhielt mindestens enge Kontakte zu Personen aus der seit 2012 wieder gegründete Terror-Struktur „Combat 18“ und der im Umfeld der Dortmunder Nazi-Band Oidoxie entstandenen Zelle „Oidoxie-Streetfighting-Crew“ oder ist selbst Teil dieser Netzwerke. Mutmaßlich decken sich somit die Unterstützerkreise mit denen des NSU. Die Frage, ob Ernst im März 2019 an einem Treffen von „Combat 18“ in Mücka teilgenommen hat, ist dabei irrelevant. Seine Einbindung in das „Netzwerk von Kameraden“ ist unstrittig. (Recherchen des Antifa-Kollektivs exif vom 17. und 26.6.19)
All diesen Erkenntnissen zum Trotz behauptete der GBA bereits nach wenigen Tagen, dass „für eine mitgliedschaftliche Einbindung des Beschuldigten in einer terroristischen Vereinigung“ bislang keine „Anhaltspunkte“ vorlägen. (PM 27/2019 v. 17.6.2019) Somit ist zu befürchten, dass wieder mit Rücksicht auf mögliche V-Personen ermittelt wird und das „Netzwerk von Kameraden“ abermals weitestgehend unberührt bleibt.

Ermittlungsdruck gegen die Naziszene? Aufdeckung und Zerschlagung rechter Netzwerke? Fehlanzeige! Damit schließt der GBA nahtlos an die Strategie der Verharmlosung und Vertuschung im NSU-Verfahren an. Bereits hier hatte der GBA entgegen der Erkenntnisse der Nebenklage, der Betroffenen und zivilgesellschaftlicher Initiativen die Legende vom isolierten Trio durchgesetzt. Vom Urteil im NSU-Prozess war eine spürbare Ermutigung der Naziszene ausgegangen – der Mord an Walter Lübcke ist ein Ergebnis davon.
Auch in die hessischen Ermittlungsbehörden und die hessische Landesregierung können (potenziell) Betroffene kein Vertrauen haben. Die schwarz-grüne Regierung hat erfolgreich die Aufklärung des Falls Temme sabotiert und die Vertuschung des Inlandsgeheimdiensts durch Sperrung der Akten bis 2044 ermöglicht. Zur Erinnerung: Temme arbeitet im von Lübcke geleiteten Regierungspräsidium Hessen, seine frühere V-Person Benjamin Gärtner dürfte mit dem Mörder Lübckes bekannt gewesen sein. Hessen ist zudem ein Hotspot rechter Netzwerke in den Sicherheitsbehörden. Ohne vollständige Aufklärung des hessischen Polizeiskandals und der Morddrohungen gegen die Anwältin Seda Başay-Yildiz können Betroffene kein Vertrauen in die Behörden haben und müssen um ihr Leben fürchten.
Wir fordern:
– Einen umfassenden und sofortigen Schutz der Betroffenen. Alle, die auf den zahlreichen Feindeslisten der Nazis stehen, müssen umgehend informiert und geschützt werden
– Die Einsetzung einer internationalen und unabhängigen Ermittlungskommission zur Aufklärung des Mords an Walter Lübcke und der Bezüge zum NSU
– Eine unabhängige Ermittlungskommission zur Aufklärung der rechten Netzwerke in der hessischen Polizei
– Umgehende Offenlegung aller hessischen Geheimdienstakten zum NSU-Komplex, insbesondere zum Fall Temme

Petition: Rechter Terror in Berlin – Untersuchungsausschuss jetzt!

Petition als PDF-Dokument / Link zur Petition

Seit Jahren überzieht eine Welle rechten Terrors den Berliner Bezirk Neukölln. Obwohl der potenzielle Täterkreis bekannt ist, werden Ermittlungen regelmäßig eingestellt. Betroffene werden trotz entsprechender Kenntnisse der Sicherheitsbehörden nicht über ihre Gefährdung informiert. Den nach Berlin weisenden Spuren des NSU-Komplexes sowie der Verwicklung Berliner Beamter darin wurde nicht nachgegangen. Der Mord an Burak Bektaș im April 2012 wurde bis heute nicht aufgeklärt.

Wir fordern deshalb mit den Betroffenen der rechten Anschläge in Neukölln die Einrichtung eines parlamentarischen Untersuchungsausschusses zum Umgang der Strafverfolgungs- und Sicherheitsbehörden mit dem rechten Terror durch das Abgeordnetenhaus von Berlin.
Begründung

In Berlin-Neukölln erfolgen seit Jahren rechte Terrorangriffe vor allem gegen politisch, gewerkschaftlich und zivilgesellschaftlich Engagierte. Die Angriffe reichen über Morddrohungen per Telefon und an privaten Wohnadressen bis hin zu Anschlägen auf Projekte, private PKWs und Mord.

Bei zwei Brandanschlägen im Jahr 2011 auf das Anton-Schmaus-Haus der Sozialistischen Jugend Deutschlands – Die Falken Neukölln waren nur durch glückliche Umstände keine Todesopfer zu beklagen. Hinweisen auf das Umfeld des NSU sind die Ermittler bis heute nicht nachgegangen.

Im April 2012 wurde der 22-jährige Burak Bektaș im Ortsteil Britz ermordet. Obwohl es klare Hinweise auf einen rechten Tathintergrund gab, ging die Polizei lange von einem „milieubedingten“ Mord aus und vernachlässigte andere Spuren. Einen Zusammenhang mit dem 2015 von einem Rechtsextremisten begangenen Mord an dem britischen Staatbürger Luke Holland will die Polizei trotz deutlicher Indizien nicht feststellen.

Im Juni 2016 begann eine neue Terrorserie. Betroffen sind jetzt vor allem Privatpersonen aus dem zivilgesellschaftlichen Spektrum, die sich gegen Nazis engagieren. Insgesamt gab es seitdem 14 Brandanschläge auf Privat-PKWs direkt vor oder in unmittelbarer Nähe der Wohnungen von Betroffenen sowie einen Brandanschlag auf eine alternative Neuköllner Kiezkneipe und einen Wagenplatz. Auch hier war es in einigen Fällen nur dem Zufall zu verdanken, dass das Feuer nicht auf Gebäude übergriff und Menschen geschädigt wurden. Im März 2019 fanden vier Engagierte an ihren Wohnhäusern und in ihren Hausfluren gegen sie gerichtete Morddrohungen. Woher kennen die Täter die Privatadressen – selbst nach Umzug und Sperre im Melderegister?

Gegen die Berliner Sicherheitsbehörden richten sich im Zusammenhang mit den Verbrechen des NSU, dessen Spuren auch in die als besonderes gewaltbereite Neuköllner Neonazi-Szene führen, erhebliche Vorwürfe, denen in Berlin nicht nachgegangen wurde.

Auch bei der neuen, seit 2016 laufenden Angriffswelle gibt es erhebliche Versäumnisse der Behörden. Personen, die nach Kenntnis des Verfassungsschutzes von Nazis beschattet werden, werden über die ihnen drohende Gefahr nicht informiert. Hinweisen wird nicht nachgegangen, Spuren werden nicht gesichert. In Absprache mit Betroffenen eingeführte Polizeistreifen wurden ohne Ankündigung reduziert und erst nach Protest wieder aufgenommen.

Die Berliner Staatsanwaltschaft stellt die Ermittlungsverfahren wegen der Anschläge entgegen anderer Zusagen nach wie vor ein.

Wie die Betroffenen der Anschläge haben wir den Eindruck, dass es sich hier nicht nur um bloße Pannen oder Unvermögen handelt, sondern dass möglicherweise Personen in den Sicherheitsbehörden die Ermittlungen hintertreiben. Angesichts einer Gruppe „NSU 2.0“ in der hessischen Polizei und eines Berliner Staatsschutzbeamten, der seine Korrespondenz mit einem abgekürzten Hitlergruß unterschrieben hatte, kann nicht ausgeschlossen werden, dass es entsprechende rechte Netzwerke auch in den Berliner Sicherheitsbehörden gab oder gibt.

Wir sind deshalb der Meinung, dass nur ein parlamentarischer Untersuchungsausschuss des Berliner Abgeordnetenhauses mit seinen besonderen Rechten zur Akteneinsicht und zur Zeugenvernehmung hier vollständige Aufklärung schaffen kann, damit der rechte Terror in Berlin-Neukölln und in den übrigen Berliner Bezirken ein Ende findet!

Grußwort zur Kundgebung in Gedenken an Semra Ertan am 26.05.2019 in Hamburg

Liebe Freundinnen und Freunde,
wir senden euch als Initiative zur Aufklärung des Mordes an Burak Bektaş unsere Solidarität und erinnern mit euch Semra Ertan, ihrer Person und ihrer Gedichte, ihrer Geschichte:
Die Geschichte eines todbringenden Rassismus und des Protestes von Semra Ertan.
Die Angehörigen und Freundinnen und Freunde von Semra Ertan fordern die Benennung einer Straße und das Anbringen einer Gedenktafel, um an Semra Ertan zu erinnern.
Wir solidarisieren uns mit eurer Forderung Ihre Botschaft weiterzutragen.
Semra Ertan ist Dank euch sichtbarer Teil unserer Geschichte und unseres andauernden Kampfes gegen Rassismus.
Wir haben nicht Vergessen.
So steht es geschrieben im Fluss der Geschichte:
Angehörige und Betroffene rechter-rassistischer Morde und Gewalt und Initiativen stehen zusammen und klagen an und fordern Aufklärung, Genugtuung und Gerechtigkeit.
Das tun wir im Fall des rassistischen Mordes an Burak Bektaş.
Das tun wir im Fall des ermordeten Süleyman Taşköprü in Hamburg vom NSU.
Das tun wir im Fall aller Opfer rassistischer und rechter Morde und Gewalt, wie auch im Fall des Ramazan Avcı, Yeliz und Bahide Arslan und Ayşe Yılmaz….
Und das tun wir auch im Fall der Semra Ertan und um der rassistischen Zustände in Staat und Gesellschaft.

Solidarische Grüße
Initiative für die Aufklärung des Mordes an Burak Bektaş